(Autor: Felix Schwarz, erschienen in FAZ.NET (Beruf und Chance), 12.11.2024)
Wenn Jochen Becker Anrufe von Führungskräften aus den oberen Etagen von Unternehmen bekommt, strotzen viele vor Selbstbewusstsein. Sie loten ihre Chancen aus und teilen dem Personalberater von HAPEKO Executive Partner ihre Gehaltsvorstellungen mit - diese lägen oft im mittleren sechsstelligen Bereich. Auf die Frage, wie sie diese Ansprüche rechtfertigen, werden laut Becker einige plötzlich kleinlaut. Nach kurzer Stille folgt ein langes „Ähm...". Manche würden dann versprechen, später noch mal anzurufen, weil sie angeblich gerade im Zug seien, sagt Becker mit einem Schmunzeln im Gesicht. In den vergangenen Wochen kamen Manager öfter direkt auf ihn zu. Es sind Anfragen von Führungskräften aus der Automobil- und Chemiebranche, dem Maschinenbau sowie von Autozulieferern.
Was Becker in diesen Gesprächen hört, bestätigt die zahlreichen Negativmeldungen aus der deutschen (Auto-)Industrie. Nach goldenen Jahren wollen immer mehr Fach- und Führungskräfte aus der Branche flüchten - oder müssen gehen. Europas größter Automobilkonzern VW will laut Betriebsratschefin Daniela Cavallo gleich drei Werke in Deutschland schließen und Zehntausende Beschäftigte entlassen. Die Krise trifft auch viele Zulieferer. Ob Bosch, ZF oder zuletzt Schaeffler: Mehr als 32.000 Arbeitsplätze stehen laut seit dem Sommer 2023 angekündigten oder bekannt gewordenen Stellenabbauplänen auf dem Spiel. „Es herrscht Krisenstimmung", sagt Becker. Im Chemie- und Pharmakonzern Bayer wiederum läuft gerade ein tiefgreifender Umbau, viele Führungskräfte werden in dem neuen Organisationsmodell nicht mehr gebraucht.
Was wird jetzt aus all den Fach- und Führungskräften, die in der Industrie nicht mehr benötigt werden? Wie groß ist die Verunsicherung? Welche Chancen haben sie auf dem Arbeitsmarkt? Gut einschätzen können das Personalberater, denn sie helfen Firmen bei der Suche und Auswahl von Personal. So wie Arne Kaiser, Geschäftsführer der Personalberatung HAPEKO. „Wir beobachten einen großen Wandel in der Automobilindustrie", sagt er. Noch vor zehn Jahren zog die Branche mit hohen Gehältern Arbeitskräfte an, die Unternehmen suchten - getragen von vollen Auftragsbüchern - händeringend nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. „Die Arbeitnehmer hatten die Qual der Wahl und konnten hohe Forderungen stellen", sagt Kaiser. Oft ist von einem Arbeitnehmermarkt die Rede - auch weil in den nächsten Jahren mehr Beschäftigte in Rente gehen als neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Fach- und Führungskräfte sehen sich oft in der besseren Verhandlungsposition. Doch diese Zeiten könnten laut Kaiser vorbei sein. „Der Markt beginnt gerade, sich zu drehen, hin zu einem temporären Arbeitgebermarkt", sagt er. Aber: Das könne der aktuellen wirtschaftlichen Lage geschuldet sein und sich demnächst wieder ändern.
700 Initiativbewerbungen im Monat
Tatsächlich ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt gerade alles andere als rosig. Laut dem Beschäftigungsbarometer des Münchner Ifo-Instituts waren die Unternehmen im Oktober zurückhaltender, besonders in der Industrie wird demnach weniger Personal benötigt. Das Barometer sank im Oktober auf den niedrigsten Wert seit Juli 2020. „Die Situation am Arbeitsmarkt entwickelt sich seit Monaten negativ, nicht stark, aber kontinuierlich", ließ sich Klaus Wohlrabe zitieren, der Leiter der Ifo-Umfragen. „Die Unternehmen besetzen eher Stellen nicht neu, als dass sie Mitarbeiter entlassen."
Da überrascht es nicht, dass Headhunter mehr Initiativbewerbungen bekommen. „Im Sommer 2022 hatten wir in einem Monat 200 Bewerber, die auf uns zugekommen sind, mittlerweile sind es 700", sagt Arne Kaiser. Die Zahl der Bewerbungen auf Anzeigen für offene Stellen habe sich zwischen 2022 und heute nahezu verdoppelt - von etwa 6000 Bewerbungen im Monat auf knapp 12.000. Darunter fallen laut Kaiser Führungskräfte, die 80.000 Euro aufwärts verdienen wollen. Die durchschnittliche Vermittlungsdauer betrage drei Monate und habe sich über die Jahre kaum verändert.
Nun könnte man vermuten, dass verdiente Führungskräfte, die jahrelang in erfolgreichen Großkonzernen Verantwortung übernommen hatten, keinerlei Probleme auf dem Arbeitsmarkt hätten. Doch Personalberater Becker entgegnet: „Viele sind nervös. Sie kontaktieren uns, auch wenn noch gar nicht klar ist, ob sie ihre bisherige Stelle behalten können." Oft könne er ihnen die Anspannung nicht nehmen - ganz im Gegenteil: „Viele Führungskräfte haben sich bisher noch nicht selbst aktiv vermarkten müssen", sagt er. Sie wüssten zwar oftmals sehr genau, was ihre bisherigen Aufgaben waren, jedoch nicht genau, welchen Mehrwert sie geschaffen haben. Er beobachtet noch einen weiteren Trend: Unternehmen wünschen sich als Führungskräfte weniger Einzelkämpfer, die möglichst viel kontrollieren wollen, sondern spezialisierte und selbstreflektierte Manager, die stärker im Team denken.
Die Manager sind offen für einen Branchenwechsel
Das sieht Michael Meier von der Personalberatung Egon Zehnder genauso. „Es geht mehr darum, Mitarbeiter auch auf der emotionalen Ebene abzuholen und nicht nur durch gute Geschäftszahlen zu glänzen", sagt er. Auch er sieht einen Paradigmenwechsel in der Automobilindustrie: „Wenn Manager die Chance sehen, eine Stelle mit vergleichbarer Verantwortung zu bekommen, wollen einige die Branche wechseln." Noch vor sechs Jahren sei dies undenkbar gewesen. Mehr Initiativbewerbungen von Führungskräften erhält Meier aber aus allen Branchen. Führungskräfte hätten gute Chancen auf eine attraktive Stelle, auch wenn sie schon im fortgeschrittenen Alter sind: „Im Vergleich zu den Jüngeren sind Sie eher noch bereit, im Büro zu erscheinen und für einen Job in eine andere Stadt oder sogar Land zu ziehen", sagt er.
Auch Frederik Gottschalck von der Personalberatung Kienbaum spricht Führungskräften aus der (Auto-)Industrie Mut zu: „Gerade in schlechten Zeiten werden gute Führungskräfte gebraucht." Und während sich die wirtschaftliche Lage irgendwann bessern werde, bleibe der demographische Wandel ein hartnäckiges Problem. „In der Automobilindustrie ist man immer wieder aufkommende Krisenzeiten gewohnt", sagt er. Doch auch er berichtet von Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren, Kandidatinnen und Kandidaten zu vermitteln. Ob Geschäftsführer, Werksleiterinnen oder kaufmännische Leiter: Initiativbewerbungen nehmen Gottschalck zufolge zu.
Mehr Hoffnung als Qualifikation
Dass aktuell viele Bewerber aktiv auf Berater zugehen, spürt auch auf die Personalberatung HSH+S von Alexander Reiter. „Die Initiativbewerbungen aus der Automobilindustrie inklusive Zulieferer steigen seit fünf Jahren, seit einem Jahr deutlich", sagt er. Einen Fachkräftemangel beobachtet er vor allem dort, wo im Mehrschichtbetrieb gearbeitet wird - und weniger in den Führungsetagen. Was seine Arbeit erschwert: „Viele lesen sich die Anzeigen gar nicht richtig durch und bewerben sich, obwohl sie nicht für die Stelle geeignet sind", sagt er. Hinter 90 von 100 Bewerbungen auf Ausschreibungen stecke mehr Hoffnung als Qualifikation, nur wenige kämen wirklich in Frage. Zugleich ist auch aus seiner Sicht die Lage für Bewerber alles andere als aussichtslos: „Wer wirklich auf eine Stelle passt, hat immer gute Chancen." Das sei allerdings kein Selbstläufer.
„Versenden Sie lieber drei gut durchdachte Bewerbungen als unzählige Verzweiflungsanschreiben", rät er Führungs- und Fachkräften. Ältere Führungskräfte sollten außerdem über ihre Gehaltsvorstellungen nachdenken. „Manchmal ist weniger mehr", sagt er. Und wer noch fest im Sattel sitzt, sollte mit einem Wechsel bis in den Februar warten, denn November und Dezember seien schwierige Monate. Aus der Sicht von Personalberater Becker sollten sich Führungskräfte die Fragen stellen, welchen konkreten Mehrwert sie für ein Unternehmen erbringen können. Was Arne Kaiser hinzufügt: „Verlassen Sie Ihre Komfortzone." Flexibilität sei die wichtigste Währung.
Frederik Gottschalck betont, wie wichtig gut gepflegte Profile in den sozialen Medien sind. „Vor allem ein inhaltlich aussagekräftiges Profil auf Linkedin macht den Unterschied", sagt er. „Und bitte keine unprofessionellen Fotos als Profilbild." Erst mal das eigene Netzwerk anzuzapfen, auch über die eigene Branche hinaus, ist aus seiner Sicht ebenso sinnvoll. Außerdem komme es auf individuell verfasste Anschreiben an: „Zeigen Sie, wer sie wirklich sind, und benutzen Sie ChatGPT wirklich ausschließlich als erste Unterstützung." Nur so könnten sich Bewerber von anderen unterscheiden.
In Vorstellungsgesprächen rät er dazu, sich demütig zu geben und zu zeigen, dass man sich mit der Firma beschäftigt hat. „Manche gehen in ein Gespräch und glauben, dass allein ihre bisherige berufliche Leistung ausreicht, um zu überzeugen", sagt er. Das gehe aber meistens nach hinten los. Was Michael Meier hinzufügt: „Schwächen zuzugeben, ist sinnvoll. Aber wichtiger ist, zu erklären, wie man aus Fehlern gelernt hat." Worin sich alle Berater einig sind: So schwierig die Lage für Fach- und Führungskräfte aus der (Auto-)Industrie auch ist, aussichtslos ist sie auf jeden Fall nicht.
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Erschienen in FAZ.NET am 12.11.2024
Autor: Felix Schwarz